Jenny Elvers und die »Alkoholbeichte«
Als Jenny Elvers zum ersten Mal für ihre Abhängigkeitserkrankung in die Schlagzeilen kam, war ich 22 Jahre alt und interessierte mich eigentlich mehr für Revolution als für Promis. Zugegeben, das hat sich nicht nennenswert geändert, und trotzdem denke ich seit geraumer Zeit immer wieder über die Schauspielerin nach. Denn obwohl im Jahr 2012 für mich noch alles in Ordnung schien, steckte ich bereits in der ersten Phase meiner Alkoholabhängigkeit: Ich trank zu viel und zu regelmäßig und ich dachte immer wieder darüber nach, wie es wäre, wenn ich eines Tages damit aufhören müsste. Während ich dabei zuschaute, wie mir langsam die Kontrolle entglitt, sinnierte ich darüber, wie es wohl wäre, sie gänzlich zu verlieren. Ich überlegte, was eine »Alkoholikerin« eigentlich auszeichnete, bestellte die nächste Runde und sehnte mich ganz generell nach mehr Selbstdisziplin. Ich sprach darüber mit niemandem.
Wir bauen unsere Welt aus Fragmenten zusammen. Irgendwo schnappen wir etwas auf; eine Information, ein Bild, eine unscheinbare Äußerung, und ziehen unsere privaten Schlüsse daraus. Welche das sind, ist unmöglich vorherzubestimmen – und meist sind die Lektionen unbewusst. So merken wir vielleicht erst mit Anfang dreißig, dass uns ein abfälliger Blick in der Sportumkleide der Mittelstufe stärker beeinflusst hat als fünf Jahre Französischunterricht. Oder wir merken erst nach einem medial verhandelten Rückfall, dass uns die Berichterstattung über Jenny Elvers doch irgendwie geprägt hat.
Jenny Elvers lebte meinen persönlichen Albtraum
Vielleicht gab es damals Menschen, die nicht mitbekamen, dass Jenny Elvers betrunken auf dem roten Sofa beim NDR gesessen hatte. Vielleicht gab es Menschen, die all die entwürdigenden Screenshots auf den Covern der Klatschmagazine ausblendeten. Vielleicht gab es jene, an denen die Witze über »Jenny Walker« (Harald Schmidt) und »Jenny Jägermeister« (Oliver Kalkofe) einfach vorbeigingen. Doch an mir gingen sie nicht vorbei. Und auch wenn ich sie nie in den Fokus rückte, mir nie ein Magazin kaufte, um die schockierende Geschichte über Jennys Alkoholbeichte zu lesen, so fühlte ich doch: Jenny Elvers lebte meinen persönlichen Albtraum. Dieser Albtraum war natürlich, mit dem Trinken aufhören zu müssen. Das allein ist für ernsthaft Trinkende schon ein Horrorszenario. Aber wenn einem dann noch Millionen von Menschen dabei zusehen und mindestens ein paar von ihnen hämisch darauf zu warten scheinen, dass man scheitert…? Albtraum.
Wer das übertrieben findet, weiß vielleicht nicht, wie fragil man ist, wenn man sich seinem Alkoholproblem stellt. Wie dünn die Nerven manchmal sind und wie hoch die Kontraste, wenn die Dämpfung durch den Alkohol wegbleibt. Wie viel Angst man hat, dass man es nicht schafft. Wie sehr man sich dafür schämt, wer man war.
Wer das immer noch übertrieben findet, hat vielleicht die Schlagzeilen von damals nicht im Kopf, die weitgehend eine Botschaft vermittelten: Wenn eine alkoholkranke Frau in der Öffentlichkeit die Symptome ihrer Krankheit zeigt (also zum Beispiel betrunken ist), ist das peinlich, schockierend und erbärmlich. Diese Frau gehört sich nicht – nicht zufällig war es Jenny Elvers’ damaliger Ehemann, der ihr Problem »outete«. Ohne ihre Einwilligung. Man muss so einer Frau misstrauen. Während Männer in einer Talk Show schonmal ausfällig werden können oder sichtlich angetrunken »philosophieren«, haben Frauen sich in der Öffentlichkeit zu benehmen. Sie sollen nicht zu laut und nicht schludrig sein, nicht zu freizügig, aber nicht zu verklemmt. Sie sollen schön sein, aber ohne es zu wollen. Gerne blond, aber nicht zu blond. Elvers bewegte sich mit all dem ohnehin an der Grenze dessen, was die deutsche Öffentlichkeit respektieren kann. Und jetzt auch noch Sucht. Peinlich. »Jenny« wurde das Erziehungsprojekt der deutschen Öffentlichkeit – und als solches musste sie natürlich zur Alkoholbeichte.
Die Alkoholbeichte
Dieses Wort »Alkoholbeichte«, das Medienschaffenden bis heute verwenden, sagt immer auch: Die Sucht ist Sünde (und zwar nicht auf eine sexy Art). Sucht ist Charakterfehler, Schwäche, moralisches Versagen, ein Verstoß gegen die Sittlichkeit. Elvers selbst tritt vier Monate nach dem Klinikaufenthalt in einer von RTL-Sondersendung vor die Kamera: »Jenny Elvers – Die ungeschminkte Wahrheit«. Sie ist auf dem Cover der Gala. Sie trägt »jungfräuliches Häkelweiß« wie Daniel Schreiber es in seiner Taz-Kolumne aus dem März 2013 nannte. Sie zeigt Reue. Sie kehre »geläutert« zurück, schreibt der Focus. Klar, schließlich ist es ja auch eine Beichte. Ob »Beichte« ein Wort ist, das sich in Bezug auf eine Erkrankung eignet, interessiert am Ende niemanden. Egal wie wertend, veraltet und stigmatisierend ist, bei Suchterkrankungen muss halt gebeichtet werden.
Natürlich muss man sagen, dass Elvers diese Auftritte nach dem Entzug mit verantwortet, vielleicht sogar initiiert hat. Aber man kann vielleicht auch die Dringlichkeit verstehen, diesem Sturm entwürdigender Schlagzeilen schnell etwas entgegenzusetzen. Vielleicht versteht man auch den Nachdruck, mit dem man die Geschichte öffentlich weitererzählt, um den betrunkenen Auftritt als einen Wendepunkt zu inszenieren und nicht als das Finale. Man will dafür sorgen: Das letzte Wort ist nicht gelallt.
Das Stigma, süchtig zu sein, ist schwer zu greifen. Jenny Elvers wurde damals gedemütigt, als habe die Sucht einfach etwas verstärkt, was schon da war: Die Weigerung der Öffentlichkeit blonde, freizügige Frauen ernstzunehmen. Bis heute erscheint Jenny Elvers immer ganz oben in den Google-Ergebnissen, wenn man bekannte Deutsche mit Alkoholproblem sucht und das Alkoholproblem ganz oben, wenn man nach Jenny Elvers sucht. Diese Ergebnisse haben nun eine schmerzhafte Aktualität bekommen, denn Jenny Elvers hatte einen Rückfall. Nach 10 Jahren Nüchternheit, ist sie betrunken Auto gefahren. Und auch wenn spekuliert wird und sich diverse Magazine nicht gerade mit Ruhm bekleckern, eine empathische Sprache zu finden: Der Tonfall der Berichterstattung ist ein anderer als damals. Vielleicht ist es das nachlassende Interesse am Leben von Jenny Elvers, vielleicht ist es ein wandelnder Zeitgeist, ein kritischeres Verhältnis zu Alkohol oder eine höhere Sensibilisierung für psychische Gesundheit. Vielleicht ist es auch Social Media zu verdanken, dass Prominente der Berichterstattung vorgreifen können, um so ein Stück Deutungshoheit über ihre Geschichte zu behalten. Wahrscheinlich ist es von allem ein bisschen. Auffällig ist dabei, dass ein Wort fällt, das damals unterging: Depressionen.
Zwei Lesarten
In mir kämpfen dabei zwei Lesarten. In der positiven Interpretation ist es richtig und wichtig zu thematisieren, dass Menschen, die abhängig werden, das nicht »einfach so« tun, weil sie irgendwie keine Disziplin haben oder es zu sehr genießen, betrunken zu sein. Wir müssen darüber sprechen, dass Suchtgeschichten komplex sind und Alkohol oft eingesetzt wird, um mit anderen Symptomen zurecht zu kommen. Deshalb ist es gut, dass es inzwischen auch Depressionen in Verbindung mit Alkohol in die Headlines schaffen und es nicht bei Worten wie »pickepackevoll« und Promillezahlen bleibt.
Die negative Lesart ist, dass es schlichtweg angenehmer ist, mit Depressionen in den Medien zu sein, als mit Alkoholabhängigkeit. Depressionen haben sich in den letzten Jahren immer weiter aus der Schmuddelecke der Krankheiten herausbewegt (ohne Frage eine gute Entwicklung). Die Vorbilder, mit denen man sich dafür identifizieren kann sind vielfältig. Man liest auch viel seltener von »Beichten«. Selbst Harald Schmidt, der sich vor 10 Jahren noch über Jenny Elvers lustig machte, sie solle in einem Film statt Marlene Dietrich lieber Amy Winehouse spielen, hat Depressionen. So gut es auch ist, das komplexe System mentaler Gesundheit auf dem Schirm zu behalten, wenn es um Sucht geht, so bequem ist es auch für die Mehrheitsgesellschaft, nicht über die Schäden von Alkohol sprechen zu müssen, wenn die Süchtigen eben psychisch defekt sind – Sie also deshalb nicht wie die »normale Leute« trinken können.
Vielleicht ist es am Ende auch egal. Denn ich weiß, dass es mir geholfen hätte, wenn es vor zehn Jahren schon Räume gegeben hätte, in denen ehrliche und öffentliche Gespräche über Alkohol und psychische Gesundheit geführt worden wären. Wenn es eine Vielzahl von Menschen gegeben hätte, die mit den verschiedenen Stadien ihrer Alkoholprobleme an die Öffentlichkeit gegangen wären. Wenn nicht die einzigen Geschichten über Abhängigkeit von diesen unfassbaren Mengen und dem nahenden Tod handeln gehandelt hätten. Für die Zukunft wünsche ich mir eigentlich gar nicht so viel, nur: ein bisschen Empathie für Menschen, die gerade eine harte Zeit haben – das hilft am Ende nämlich allen.
Ich glaube, wir verdanken Jenny Elvers ziemlich viel – Sie hat in einer Zeit, in der kaum jemand über Alkohol sprach, darüber gesprochen und wurde dafür zur Zielscheibe gemacht. Man kann von dem Fall Jenny Elvers nicht nur schlechtes lernen – denn sie selbst hat immer wieder gezeigt, dass es weitergeht, auch wenn ganz Deutschland über deinen Absturz lacht. Dass man sprechen kann, auch wenn andere kaum hören wollen, was man wirklich zu sagen hat. Und so gravierend ein Rückfall auch sein kann, er macht zehn Jahre Nüchternheit nicht ungeschehen.