Alkoholiker, das sind immer die anderen
Der Text ist zu erst auf sodaklub.com erschienen
Als ich noch regelmäßig zu viel trank und meine Zeit damit verbrachte, mir Sorgen über Alkohol zu machen, kreisten meine Gedanken vor allem um die Frage, ob ich schon als Alkoholikerin galt. Die Antwort schien darüber zu entscheiden, ob ich »für immer« mit dem Trinken aufhören müsste – und das wollte ich natürlich unbedingt vermeiden. »Trockene Alkoholiker« waren in meiner Vorstellung jene Unglücklichen, die mit ihrem Alkoholkonsum eine gewisse Grenze überschritten haben. Sie dürfen nie wieder trinken, sitzen ständig in traurigen Stuhlkreisen und kämpfen gegen den Rückfall. Wenn sie nicht stark bleiben, werden sie unweigerlich ihre Familie zerstören, ihren Job verlieren und alleine sterben. Nichts davon wollte ich.
In einer Gesellschaft, in der das Trinken die Norm ist, erschien mir so ein Leben auch wie ein Versagen – vielleicht mehr noch, wie der Bruch eines sozialen Vertrages. Als gäbe es diesen Deal, dass wir alle badewannenweise Spirituosen saufen können, solange wir keine Probleme damit entwickeln. Denn Leute mit Problemen machen vor allem eins: den anderen die Party kaputt. Lieber stadtbekannter Trinker als anonymer Alkoholiker! Sprachlich suggeriert sogar schon das »missbräuchliche Trinken« ein Delikt. Es ist nicht gerade Macht- oder gar Kindesmissbrauch, aber letztlich doch eine Form von Missbrauch. Wenn wir etwas Gutes aus niederen Beweggründen zweckentfremden, erscheint das vorsätzlich und im Widerspruch zur natürlichen Ordnung der Dinge. Ich wollte Alkohol nicht missbrauchen, ich liebte ihn ja.
Ich kannte auch die Härte in den Stimmen der Menschen, wenn sie über Verwandte, Bekannte oder Fremde auf der Straße mit Alkoholproblemen sprachen. Sie sagten das Wort »Alkoholiker«, fast als würden sie es ausspucken. Ich wollte nicht ausgespuckt werden.
Gibt es Alkoholiker überhaupt?
Als ich im Sommer 2019 nüchtern wurde, hörte ich zum ersten Mal eine andere Perspektive. Es gab vor allem in den USA Menschen, die sagten: Hör auf dich zu fragen, ob du Alkoholikerin bist. Frag dich stattdessen, welche Rolle Alkohol in deinem Leben spielt, ob es dir besser gehen könnte, wenn du nicht mehr trinken würdest. Frag dich, was du brauchst, um frei zu sein.
Für mich war das eine riesige Erleichterung. Ich fühlte genau das, was die Autorin und Aktivistin Holly Whitaker beschrieb: Dass das Stigma des Begriffes uns in einem Angstzustand hält und verhindert, dass wir unsere eigene Beziehung zum Alkohol ehrlich betrachten können. Whitaker stellt sogar die These auf, dass es »Alkoholiker« eigentlich gar nicht gebe. Achtung! Alkoholabhängigkeit gebe es selbstverständlich, aber die Figur des Alkoholikers sei eben eine Erfindung der alkoholgetränkten Mehrheitsgesellschaft, um Suchtkranke zu stigmatisieren und den Konsum aller anderen zu verharmlosen. Auch in Deutschland sehen das immer mehr Menschen so oder so ähnlich. Nathalie Stüben kritisiert am Wort »Alkoholiker« zum Beispiel, dass es suggeriere, man sei anders und müsse sich dafür schämen. Sie schreibt in ihrem Buch: »So fing ich an, das Wort ›Alkoholikerin‹ aus meinem Wortschatz zu streichen und mir Sätze zu sagen, die mir guttun. Sätze wie: Ich liebe es, nüchtern zu sein. Ich bin gesund. […] Und, allen voran: Ich bin frei.«
Beide Frauen verbinden ihre Kritik am Label auch mit Kritik an den Anonymen Alkoholikern (AA). Die Argumente, dass es sich bei AA um ein patriarchales Programm handele (Holly) oder dass man da im Kranksein hängen bleibe (Nathalie), erschienen mir schlüssig und waren für mich erstmal Grund genug, die Meetings zu meiden. Bis ich irgendwann feststellte, dass ich keine starke Meinung mehr dazu hatte und mich einfach mal mit in den Stuhlkreis setzte. Nach kurzer Zeit erschienen mir die Kritikpunkte ziemlich theoretisch – ich fühlte mich jedenfalls nach den Meetings nicht unterdrückter oder kränker als vorher (eher im Gegenteil). Und wenn ich eines in Bezug auf Abhängigkeit gelernt hatte, dann, dass Theorie mir einen Scheiß für meine Nüchternheit bringt. Ich wollte Erfahrung, Erleben, Verbindung, Widersprüche, Konflikte, Reibung, Versöhnung, fühlbare Erkenntnis, Genervtheit und allem voran: Gemeinschaft.
Alkoholismus: real und ausgedacht zugleich
Wenn man jetzt Erbsen zählen will und Alkoholismus strikt als Krankheit betrachtet, dann ist tatsächlich niemand davon betroffen, denn in den genormten Katalogen für die Diagnostik von Krankheiten steht er nicht drin. Streng genommen hatte ich ein »Abhängigkeitssyndrom« (ICD-10) oder eine »Alkoholkonsumstörung« (DSM-5), die nach über einem Jahr Abstinenz als anhaltend remittiert gilt. Nirgendwo steht, dass ich mich für immer als Alkoholikerin bezeichnen muss, weil ich sonst rückfällig werde oder irgendwas von Stuhlkreisen und gebrochenen Gesellschaftsverträgen. Aber trotzdem sind diese Vorstellungen da – und sie gehen auch nicht davon weg, dass man sie ignoriert.
Wenn Dinge sowohl ausgedacht als auch real sind, weil sie zum Beispiel konkrete Konsequenzen für das Leben vieler Menschen haben, dann spricht man von sozialen Konstrukten. So wie Geschlechterrollen sozial konstruiert sind, aber reale Auswirkungen auf unser aller Leben haben, ist auch der Alkoholismus bzw. der Alkoholiker ein soziales Konstrukt.
Das Problem ist erstmal nicht, dass es gesellschaftliche Vorstellungen gibt, die mit einer Diagnose verknüpft sind – das ist völlig normal. Das Problem ist, dass wir nicht sauber zwischen der medizinischen und der sozialen Ebene trennen. Selbst die Fachliteratur verwendet Alkoholabhängigkeit und Alkoholismus weitgehend synonym – trotz einer Empfehlung der WHO von 1979, auf den Begriff »Alcoholism« aufgrund seiner Ungenauigkeit zu verzichten. Mich hat das jahrelang völlig verwirrt. Als ich mich fragte, ob ich schon Alkoholikerin sei, glich ich nicht etwa mein Alkoholproblem mit dem Kriterienkatalog für Alkoholabhängigkeit ab, sondern mit einem mächtigen sozialen Konstrukt, das ich nie so recht zu greifen bekam. Noch dazu ein Konstrukt, über das man in Deutschland nur hinter vorgehaltener Hand spricht und das niemand als solches benennt. Ein Konstrukt, das per Definition nach einmaliger Diagnose für immer zu meinem Leben gehören würde. Das war einfach alles zu viel. Ich wollte doch nur nicht mehr abhängig von Alkohol sein.
Das andere Problem ist, was das soziale Konstrukt beinhaltet. Noch immer schwingen beim »Alkoholiker« Bedeutungen mit, wie krank, abnorm, willensschwach, »asozial«, ungepflegt, faul oder kriminell. Sie bilden das Stigma, das es sehr schwierig macht, über ein Alkoholproblem zu sprechen und Hilfe zu suchen – wohlgemerkt bei einem Problem, das in Deutschland jedes Jahr viele zehntausende Menschen umbringt. Ganz zu schweigen von den Millionen von Kindern, die in suchtbelasteten Familien aufwachsen und denen Scham und Schweigen quasi in die Wiege gelegt werden. Auf die Gefahr hin, dramatisch zu klingen: Die Frage nach dem Begriff des Alkoholikers und die Bedeutungen, die wir ihm verleihen, ist eine Frage von Leben und Tod.
Alkoholismus als soziales Konstrukt zu begreifen ist deshalb sinnvoll, weil man damit seine Gemachtheit enttarnt. Es entfernt den Anstrich von Allgemeingültigkeit. Das hilft wiederum nicht nur bei der Selbstdiagnose, sondern auch, um die Ruhe zu bewahren, wenn mal wieder irgendwer meint, im Besitz einer objektiven Wahrheit über Alkoholiker zu sein; wie wir so sind, was wir so dürfen oder wie wir uns zu verhalten haben. Wie bei einem Budenzauber können wir die Schnüre sehen, an denen die Requisiten hängen und wenn wir sie weit genug verfolgen auch, wer die Fäden hält.
Wer hat den Alkoholiker gemacht?
Teil des Alkoholismus-Konstrukts ist natürlich die Diagnose »Alkoholabhängigkeit«, die allerdings keine notwendige Bedingung ist, um als Alkoholiker:in zu gelten – schließlich sterben und genesen viele von uns, ohne jemals diagnostiziert worden zu sein. Wichtiger als die Diagnose selbst sind jene, die den Kriterienkatalog für die Abhängigkeit weiterentwickeln und anwenden. Also zum Beispiel medizinisches und psychologisches Fachpersonal sowie von Wissenschaftler:innen in der Medizin, Suchtforschung, Pädagogik, Psychologie und Neurowissenschaft. Hinzu kommen Praktiker:innen, die in Heilinstitutionen wie Sucht- und Entzugskliniken, Psychiatrien oder bei privaten Anbietern wie der Betty Ford Klinik arbeiten.
Der Diskurs geht jedoch weit über die medizinische Fachwelt hinaus – So ist es nicht nur der als pathologisch geltende Alkoholkonsum, der unser Bild vom Alkoholiker prägt, sondern auch der normalisierte. Praktiken der Alkoholindustrie (Werbemaßnahmen, Sponsoring, Produktentwicklung) oder die Art wie Medien über Alkohol(-Krankheit) berichten, beeinflussen, was als »normal«, »abweichend« oder »krank« gilt. In Deutschland haben wir zudem eine starke Tradition des Rauschtrinkens, die von Organisationen wie Burschenschaften oder Schützenvereine weitergegeben und in festen Bräuchen praktiziert wird. Interessensverbände beeinflussen auch staatliches Handeln in Form von Gesetzen, die den Konsum beschränken sollen, sowie staatliches Nicht-Handeln wie etwa in Form von Steuernachlässen für die Weinindustrie.
Und dann sind da noch wir
Dann gibt es natürlich noch uns, also diejenigen, die sich mit dem Label und dem zugehörigen Stigma herumschlagen müssen. Auch wir schreiben unweigerlich unsere Geschichten und unsere Meinungen, unsere Erfahrungen und Gedanken mit ein. Manche tun das als Einzelpersonen, öffentlich oder privat, andere als Teil von Organisationen oder in Selbsthilfegruppen.
Für uns stellt sich auch die Frage nach Selbst- und Fremdbezeichnung. Nutzen wir den Hebel, den uns das Wort »Alkoholiker« gibt, um das Konstrukt aktiv mitzugestalten oder weisen wir es von uns? Wie weit fassen wir unsere Gemeinschaft? Wo zählen wir uns dazu? Das alles sind zuerst persönliche Entscheidungen, die jeder Mensch für sich selber treffen kann – Was auch immer dir in deiner Recovery hilft: tu es.
Je größer unsere Öffentlichkeit, desto stärker wird aber die politische Komponente dieser Entscheidung – ganz besonders dann, wenn sie genutzt werden kann, um uns zu spalten. Zur Wahrheit gehört nämlich auch, dass es Menschen gibt, die sich nicht (mehr) entscheiden können, ob sie als Alkoholiker:in gelabelt werden oder nicht. Auf sie regnet mit jeder ausgespuckten Alkoholiker-Zuschreibung auch das gesellschaftliche Stigma nieder. Wir laufen dann Gefahr, dass wir Alkoholabhängige erster und zweiter Klasse erschaffen. Erster Klasse sind jene, die ihren Konsum gut genug verstecken konnten, die weit genug weg sind von dem Klischee, um sich noch aussuchen zu können, wie sie sich labeln wollen. Jene, die Zugang zu kostenpflichtigen Programmen haben, zu den richtigen Büchern, zu der richtigen Sprache, zum richtigen Look. Die übermäßige Betonung, man selbst sei »nur psychisch« abhängig gewesen, kann der Abgrenzung gegenüber den »schon körperlich Abhängigen« dienen und damit die Klischees über Alkoholiker unbeabsichtigt weiterschreiben – bloß eben auf einen Teil des Spektrums verdichtet, von dem man sich selbst wieder abgrenzen kann.
Wir laufen Gefahr, dass wir im Versuch, das Stigma zu zerstören, andere schädliche Narrative über alkoholabhängige Menschen fortschreiben. Das kann auch passieren, wenn sich die Kritik ausgerechnet gegen die Anonymen Alkoholiker richtet, statt gegen das Stigma selbst – wenn das Wissen und die Hilfe zur Genesung, die Millionen von Menschen das Leben gerettet haben, mit einer theoretischen Kritik abgetan wird, weil es dort zur Praxis gehört, sich als Alkoholiker:in zu bezeichnen. Wenn wir ungenau sind mit unserer Kritik, erklären wir vielleicht »den Alkoholiker« für erledigt, aber entwerten auch die Arbeit, die unter diesem Begriff stattfindet. Wir bauen damit Hürden auf, nicht ab. Es macht uns schwächer, nicht stärker.
An die eigene Nase fassen
Ich selbst habe es lange abgelehnt, mich als Alkoholikerin zu bezeichnen. Der Grund war eigentlich ziemlich simpel: Es war mir unangenehm. Es war aber auch nicht schwierig, das Label zu umgehen, weil ich über genau die Qualitäten verfüge, mit denen ich Erste Klasse im Alki-Zug fahren kann. Ich habe in Bezug darauf keine Scham, denn es hat mir geholfen, nüchtern zu werden. Ganz zu Anfang, als alles noch chaotisch und neu war, hatte ich wirklich andere Sachen im Kopf, als die Frage ob das privilegiert ist, mich nicht als Alkoholikerin zu bezeichnen oder ob irgendwen spaltet oder den Anonymen Alkoholikern gegenüber unfair ist – »den Alkoholiker« von mir zu weisen, hieß auch, das Stigma von mir zu weisen und das war hilfreich. Je stärker ich mich fühlte und je offener ich wurde, desto mehr verlor meine Abgrenzung aber an Funktion – wie Stützräder, die am Fahrrad bleiben, obwohl das Kind längst allein die Balance hält. Sie kam mir zunehmend kosmetisch vor, als wollte ich mir zumindest die Option offenhalten, die Nüchternheit als eine Art Life-Style Entscheidung zu verkaufen, statt der lebensrettenden Maßnahme, die sie ist. Und Alkoholikerin sein klingt einfach so unschick.
Neulich schrieb mir ein guter Freund, um den ich mir schon lange Sorgen mache: »Mika, ich bin Alkoholiker.« In dem Moment fühlte ich nicht den Hauch einer Opposition, sondern einfach nur Dankbarkeit, Demut und unfassbar viel Liebe. Jedes Gefühl war durchzogen von der Erleichterung über eine ausgesprochene Wahrheit – Und wir wissen alle intuitiv, was diese Wahrheit ist. Diese Wahrheit ist unser gemeinsamer Nenner, sie ist es um die wir uns in einem Meeting versammeln. Sie verbindet uns. Alles andere ist Gedöns. Ihr Respekt zu zollen und Teil dieses Diskurses zu sein, das ist für mich das große Ganze. Über die Details können wir streiten.
In dieser Gesellschaft sind Alkoholiker:innen immer nur die anderen. Ohne es zu merken, schrieb ich diese Erzählung mit meiner eigenen Abgrenzung fort. Jetzt sehe ich es anders: Alkoholikerin? Das bin ich auch.